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Bericht von der D&F Academy

Ein unglaublich kreativer Haufen Musiker, ein Sack voller Flöhe. Sie machen ständig Musik, alleine, zusammen. Die ungewöhnlichsten Kombinationen. Keine Tabus im Kopf: Nepalesisches Volkslied mit amerikanischer Fiddle und schottischem Highland Dance. Ihre Musik ist ihnen entweder frei verfügbares Material, aus dem etwas ganz neues entstehen kann, oder auch unantastbar, beinahe heilig. Wir alle werden in fremden Rhythmen klatschen, uns bewegen, dazu singen.

Isabelle Heiss und ich – beide Sänger und Stimmcoaches der Vokalakademie Berlin – bringen unseren eigenen musikalischen Background mit: unsere Erfahrung als klassische Ensemble-Sänger, Gesangslehrer und Musikpädagogen. Da die Vokalakademie Berlin selbst ein Profichor ist, der aus einer Chorakademie für junge Sänger entstanden ist, in der daher ein besonderer Teamgeist herrscht und die nur durch die Begeisterung aller Mitglieder das ist, was sie ist, war unser Ziel im Workshop, zum einen alle Fellows in Kontakt mit ihrer Stimme zu bringen, die unterschiedlichsten Stimmen zu einer klanglichen Einheit zu formen, zum anderen ein Bewusstsein zu schaffen, wie man fremde Musik vermitteln kann, wie man andere zum Singen bringt.

Bei den täglichen Stimm-Warm-ups fällt uns die sehr schnelle Reaktionsfähigkeit der Fellows auf. Ein kleiner Hinweis, ein suggestives Bild und der Klang der Gruppe verändert sich. Nur wenige singen selbst, wenn sie Musik machen, und die Sänger haben sehr unterschiedlichen stilistischen Background (Pop, Funk, R&B, Volkslied, klassisch ...). Uns war daher wichtig, einen möglichst offenen Zugang zur Stimme zu finden und alle möglichst schnell dazu zu bringen, sich hören zu lassen. Wir arbeiten an experimenteller Stimmimprovisation – inspiriert durch die Komposition „Maulwerke“ von Dieter Schnebel. Das gibt manchen Teilnehmern unerwartet die Gelegenheit, ihr Stimmorgan vielseitig und vor allem auch emotional differenziert zu nutzen. Gurgeln, Glucksen, Klicken, Stottern, Stöhnen, stiller Atem, Konsonanten-Salven: Diese sehr unmittelbare Arbeit am stimmlichen Ausdruck wirft schnell Fragen auf: „Ist das überhaupt Musik?“, „Wozu ist das eigentlich gut?“

Doch mit Gesang und Sprache so in ihre Einzelteile zerlegt tut sich ein Raum scheinbar unbegrenzter Möglichkeiten auf. Wer bisher dachte, er könnte nicht singen, entdeckt ganz neue Klänge an sich. Wer bisher eher durch Zurückhaltung aufgefallen ist, nimmt sich im freien Ausdruck ganz anders Raum. Später kommt uns diese Offenheit für fremd anmutende Klangerzeugung besonders zu Gute, wenn es darum geht, auf Kikuyu (Kenia), Arabisch, Hindi, Tagalog (Philippinen) oder Walisisch (Wales) und vielen anderen Sprachen mehr zu singen.

Und nicht nur die Sprache macht fremde Musik fremd. Bei vielen Liedern und Arrangements müssen wir uns in einen für uns neuen Groove einhören, einfühlen, die Stimme in scheinbar nicht zu kontrollierenden Verzierungen frei die Melodie umspielen lassen, eine ganz neue Klangwelt erkunden. Mit der Zeit beschleicht die Fellows und uns ein immer bestimmter werdendes Gefühl: Unsere zunächst unbeholfenen Schritte auf neuem Terrain, die wachsende Vertrautheit, der große Spaß, wenn’s endlich Sinn ergibt, wenn die Musik ein wenig Ähnlichkeit mit dem Vorgemachten bekommt, das alles folgt einem gemeinsamen Prinzip. Nach dem Sprung ins kalte Wasser entsteht langsam Vertrauen. Das macht Lust auf mehr.

Worauf kommt es also an, wenn Musiker der unterschiedlichsten Stilrichtungen aus der ganzen Welt zusammenkommen? Jeder muss die Ohren spitzen, offen sein für anderes, um nicht im begrenzten Kreis der eigenen Erfahrung zu bleiben. Wer umgekehrt anderen seine Musik nahe bringen will, muss bereit sein, sie zu vereinfachen, die Ansprüche runter schrauben und sich darauf einlassen, dass schon erste Schritte große Begeisterung auslösen können. Oder eben gleich die Flucht nach vorne antreten und etwas ganz neues entstehen lassen, das jeden und jede dort abholt, wo er/sie steht.

Und was bringt dann eine solche Begegnung von Musikern? Neben großem Spaß, vielen neuen Klang- und Groove-Erlebnissen bringt sie großen Respekt vor der Schönheit und Komplexität der fremden Musiktraditionen und das Wissen und mitreißende Gefühl, dass Musik, so unterschiedlich sie auch sein mag, uns allen ähnliche Erlebnisse gibt: von Erfolg nach hartem Üben, von Begeisterung, wenn der Funke überspringt, von tiefen Begegnungen, wenn man eine gemeinsame musikalische Idee entwickelt hat, und von großer Bereicherung, wenn wir unseren eigenen Horizont überschreiten und sich dadurch eine neue Welt auftut.

Martin Netter

Der Autor arbeitet als freischaffender Sänger, Stimmbildner, Gesangslehrer und Stimmcoach.
Er ist u.a. Gründungsmitglied des Vokalquintetts Berlin und der Vokalakademie Berlin.